Haushaltsrede 2023 von Lore Hauschild

Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
liebe Besucherinnen und Besucher dieser Ratssitzung
liebe Verwaltung,
einen Guten Tag an den Vertreter der Presse,
und schließlich:

Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir alle sind Mitglieder des Rates, weil wir politisch denkende und handelnde Menschen sind, zwar mit teilweise sehr unterschiedlichen Programmen, aber ich bin mir sicher, über Krieg und Klima, Geflüchtete und Inflation, Rechtsruck und Demokratie machen wir uns alle mehr als nur oberflächliche Stammtischgedanken.

Deshalb vorweg:

wir sind nicht blöd,
wir feilschen nicht reichlich lang
wir offerieren keine Blumensträuße an Änderungswünschen
wir sind keine naiven Kindlein, die auf Wünsch-dir-was-Listen parteipolitische Weihnachtswünsche platzieren.

Wir haben die „Zeitenwende“ im Blick, 100 Milliarden für Kriegstüchtigkeit, wir bemerken das Leiden in der Welt durch Krieg und Klimakatastrophen.

Und wir sehen, das alles hat auch mit uns zu tun, hier in den Niederungen der Lokalpolitik.

Wir sehen

  • auf dem Marktplatz die immer länger werdende Schlange an der Tafel
  • die sorgenvollen Blicke an der Supermarktkasse, weil Nudeln, Brot und Gemüse immer teurer werden, zu Einschränkungen und Verzicht führen

Wir hören

  • den fluchenden Pendler, der tanken muss, weil er seinen Arbeitsplatz nicht mit dem ÖPNV erreichen kann.

Wir wissen

  • um die Angst vor Mieterhöhung und Wohnungsverlust

Ein Vorschlag: Die über 350 BürgermeisterInnen in NRW, schreiben einen Brandbrief an die da ganz oben mit dem Titel „Finanzen neu sortieren“:

Erbschaftssteuer erhöhen, Vermögen gerecht verteilen, Einkommenssteuer runter- Vermögenssteuer rauf.
Schuldenbremse vergessen, investieren in Bildung, Klimaschutz und marode Infrastruktur.
Damit Menschen und Kommunen ihr Auskommen haben!

Passiert aber bislang nicht, und, da bin ich realistisch: wird so nicht passieren. Und so müssen wir in der Lokalpolitik PRIORISIEREN; das neue Wort für SPAREN, für: erstmal nix tun.

Und Trotzdem, deutlich Trotzdem!

Mit unseren eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten in der Lokalpolitik vereinbaren wir uns, um einen Haushalt zu beschließen, treffen uns zu gemeinsamen Antragsberatungen.

Wenn eine Fraktion meint, sich für Blumenampeln anstrengen zu müssen, weil das dem Wohlbefinden von Menschen und Bienen in der Innenstadt diene, und wenn eine andere Fraktion sagt: „nur sparen, nix ausgeben, das führt uns in eine bessere, eine sichere Haushaltszukunft“ und weitere Fraktionen meinen, für Balkonkraftwerke, ÖPNV und Kultur müsse Geld her, dann ist das erstmal etwas Gutes für uns alle.

Denn in unseren interfraktionellen Runden argumentieren wir, wägen ab, suchen Mehrheiten, kommen zu Ergebnissen, und das ist das Besondere hier in Greven: Ohne eine feste, bindende Koalitionsklammer, an dem Sachverhalt orientiert finden sich die Mehrheiten.

Das sorgt für Freude bei einem so einstimmigen Konsens, wie wir ihn bei der Erhöhung des Kulturetats erreicht haben. Manchmal aber auch für Enttäuschung, so z.B. als die Grünen gegen das mulingula Projekt argumentieren, weil unserer Meinung nach Unterricht absolute Priorität haben muss, insbesondere bei Kindern, die integriert werden wollen und sollen. Deshalb gilt für uns als Bedingung: 30.000 € für mulingua, unter der Bedingung: kein Unterrichtsausfall für die teilnehmenden Kinder.

Oder wenn die Verwaltung – noch einmal betont: die Verwaltung – unserem Grünen Vorschlag ohne Einwände, einfach nur zustimmend folgt und das bei einer Summe von immerhin 40.000 €, nämlich für die Optimierung des ÖPNV, dann muss man doch feststellen:

Weitsicht und Vernunft haben hier eine Chance. Hier funktioniert Demokratie.

Nicht irgendein Emir oder, wie bei uns noch vor gar nicht so langer Zeit ein Fürst und schon mal überhaupt nicht ein „Führer“ bestimmen.

Wir stehen ein für Demokratie, für Förderalismus statt Feudalismus.

Nur: jetzt kommt das große, fette ABER:

Ich bin wieder am Anfang: Hier, in den Niederungen der Lokalpolitik, sind wir abhängig und ausgeliefert:

Bund, Land, LWL und der Kreis Steinfurt konfrontieren uns auf der lokalen Ebene mit Gesetzen, Erlassen und Vorgaben, denen wir folgen müssen. Aber ohne uns mit den notwendigen Ressourcen handlungsfähig zu machen.

Ein Beispiel mit erheblichen Konsequenzen für unseren Haushalt in Greven: Der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz.

Bund und Land haben dieses Gesetz richtigerweise 2013 auf den Weg gebracht, in Greven haben wir gewährleistet, dass es umgesetzt werden konnte, wir haben im JHA den Bau von zig Kita-Gruppen beschlossen.

Ziel und Effekt: Ein gutes Bildungsangebot in der frühen Kindheit, Erwerbstätigkeit für beide Elternteile machbar.

Das war gesamtwirtschaftlich gewollt, ermöglichte den Familien den Lebensunterhalt zu verbessern oder sich in ein Hausbau-Abenteuer zu stürzen.

Gleichzeitig hat man nicht beachtet, dass das Unterfangen Kita auch mehr Personal braucht. So musste Frau Tenhaken schon im letzten Jahr sagen: Wir fahren das System vor die Wand.

Das haben wir getan, in MS schneller als in Greven, aber auch hier haben wir reduzierte Öffnungszeiten und Gruppenschließungen, mit absehbarer Verschlimmerung.

Für die einzelne Familie bedeutet das Stress und Sorge, auch um den Arbeitsplatz. Für die Kinder Bindungsverlust und Verunsicherung, Verwahren statt betreuen, von frühkindlicher Bildung redet kaum noch einer. PISA?? Kommt doch später. Blöd nur, dass wir auch hier ein Notstandsgebiet haben.

Noch mal deutlich: Recht auf Kita-Platz, ohne planerisch dafür zu sorgen, dass wir als Kommunen das gewährleisten können.

Lokal erleben wir das heftige Problem, werden von den Eltern zu Recht gefragt: Was tut ihr, um dem abzuhelfen. Unser Arbeitgeber wird sauer. Ich kann und will mich nicht mehr Kind-Krank schreiben lassen, wenn die Kita zu ist.

Als einzige Antwort bleibt uns im Frühjahr 2023: können wir nichts machen, ist außerhalb unseres Entscheidungsspektrums.

Was uns blieb: Gespräch mit der zuständigen Landesministerin zu unterstützen, Josefine Paul kam und sagte: wir geben unser Bestes aber, aber, aber ….

Aktuelle Folge für unseren Haushalt: 55.000 € einstellen, so dass Eltern zumindest nicht für etwas zahlen müssen, was sie nicht bekommen – Stichwort: Rückzahlung Elternbeiträge.

Nur mal angemerkt: Dieses System ist vor der Wand… hat aber nicht mehr die Kraft, die Wand zu durchbrechen, um mal den Spiegelbestseller-Autor Kohai Saito zu zitieren. (1)

Der Hilferuf der Elternschaft war der erste an eine höhere politische Ebene, es folgten in diesem Herbst zwei besondere Aktionen:

Im September schrieben über 350 Städte und Gemeinden in NRW einen Brandbrief an Ministerpräsident Hendrik Wüst, um den bevorstehenden finanziellen Kollaps anzuzeigen.

Der Fortbestand der kommunalen Selbstverwaltung in unserem Land steht auf dem Spiel. (…) Die Städte und Kommunen geraten durch eine Anhäufung von Herausforderungen immer stärker in eine finanzielle Notlage.

https://www1.wdr.de/nachrichten/brandbrief-buergermeister-kommunen-wuest-nrw-100.html

Das ist schon heftig und kann nicht einfach so weggewischt werden.

Vorletzte Woche ein gemeinsamer Brief aller 24 BürgermeisterInnen im Kreis Steinfurt, egal ob CDU, SPD oder Grüne, an den Landrat Herrn Sommer. Auch hier Überforderung, diesmal durch die Zuweisung von Geflüchteten, die nicht angemessen untergebracht und versorgt werden können.

Bund und Land geben mal finanzielle Trostpflaster, aber letztlich laufen die Probleme bei uns, genau hier auf. Uli Stratmann schlug mal vor, Geflüchtete im Ratssaal unterzubringen. Der Ratssaal war untauglich zum Wohnen, nur wir fühlen uns hier kurzfristig wohl.

Die BürgermeisterInnen beklagen die massive und systematische Überlastung der eigenen Verwaltung. Bei unzureichender Versorgung befürchten sie „sozialen Sprengstoff“. Angesichts der Kernaussagen dieses Briefes und der „Forderungen an die handelnden Personen in der Politik“ ist schon klar, dass es weder einfache noch schnelle Lösungen geben wird.

Da bittet die Stadt Greven ihre Bürgerinnen, doch noch mal zu schauen, ob sie nicht Wohneinheiten vermieten könnten. Meine Vermutung: wenig Resonanz, ein netter, aber hilfloser Versuch.

Gelingt es nicht, weder global noch lokal, den Reichtum der Erde so zu verteilen, dass alle Menschen ihr Auskommen haben, und gelingt es uns nicht, Klima und Erde so zu schützen, dass wir eine menschliche Zukunft haben, schaffen wir das nicht, auch nicht nach COP28, COP29, Cop soundso, dann muss sich die nächste Generation keine Gedanken darüber machen, dass sie die letzte sein könnte. Sie ist es dann.

Noch einmal Kohei Saito: Der Sieg der Natur über den Kapitalismus.

Und trotzdem: wir übernehmen lokal unseren machbaren Teil an Verantwortung, aber: Wir sind in der Fresskette ganz unten. Und dafür, dass wir uns kaum wehren können, liebe Kolleginnen und Kollegen, macht es die Verwaltung, machen wir und macht es vor allem der Kämmerer doch ganz passabel.

Zwar bekommt die WN die Feinheiten der Debatten und der Haushaltslage noch nicht so ganz mit, aber Matthias Bücker hat unter den von außen vorgegebenen miserablen Bedingungen einen ausgewogenen Haushaltsentwurf vorgelegt, deshalb werden wir dem Haushalt zustimmen.

Ich für mein Teil kann sagen, die Verwaltung hat mindestens im FB3 von Beate Tenhaken sehr gute Arbeit geleistet, immer erreichbar – immer zum Fachgespräch bereit, und bei der TBG hat Frau Bücker-Gittel, möglicherweise weil sie zur Hälfte „Bücker“ heißt, auch beste Ergebnisse gebracht.

Herr Scheil beeilt sich jetzt mit einem Wärmekonzept, mobilisiert für die Mobilitätswende – hoffentlich, rettet das Klima und die Ortsmitte Reckenfeld.

Rathaus kriegen wir auch noch hin – später.

Noch einen ganz besonderen Dank an die tüchtigen, Protokoll führenden Mitarbeiterinnen, besonders Frau Kurk, die im letzten HFWA tolle Arbeit geleistet hat. Wir haben es ihr nicht leicht gemacht. Vielen Dank!

Doch die Bedingungen von außen sind mehr als schwierig – bei Außenpolitik und auch an unserem Deich lernen wir noch:

Gedenk-KULTUR gegen Barbarei.

Und genau deshalb jetzt ein unüblicher Schluss:

Shalom

(1) Kohei Saito: Systemsturz Der Sieg der Natur über den Kapitalismus. dtv 2023